Ein Revoluzzer verkauft den Zwang

von-allen-guten-geisternLange Zeit erinnerte in Hamburg nur noch die Friedrichsberger Straße und die S-Bahn-Haltestelle Friedrichsberg an die einstige Heil- und Irrenanstalt aus dem 19. Jahrhundert. Jetzt aber ist es dem Schriftsteller Andreas Kollender in vortrefflicher Weise gelungen, diese Geschichte wieder ans Licht zu holen – und nicht nur das. Mit seinem neuen Roman „Von allen guten Geistern“ würdigt er besonders den Begründer der Anstalt und schreibt diesen Mann furchtbar schön und direkt ins Herz des Lesers. Eine Wucht von einem Roman!

In der alten Hansestadt Hamburg schreibt man das Jahr 1864, als die Zeitungen von einem seltsamen Vorfall auf dem Heiligengeistfeld berichten. Ein Mann namens Ludwig Meyer verkauft auf dem Markt alte Zwangsjacken – und die Leute reißen sie ihm förmlich aus den Händen. Dieser Meyer war niemand Geringeres als der neue Leiter der Heil- und Irrenanstalt Friedrichsberg, der, wie Kollender es ihm so schön in den Mund legt, den „Zwang verkauft“ hat. Der Psychiater war seiner Zeit und dem Wissen und Wollen seiner Kollegen weit voraus und Anhänger der sogenannten „No Restraint“-Bewegung. Keine Zwangsmaßnahmen sollten die Patienten einengen, sondern sie sollten sich weitestgehend frei entfalten können.

Die Heil- und Irrenanstalt Friedrichsberg, die tatsächlich maßgeblich nach Meyers Plänen eingerichtet wurde, galt als eine der fortschrittlichsten Psychiatrien der damaligen Zeit. Erstmalig blieben die Fenster ohne Gitter, und die Menschen wurden nicht mehr wie Gefängnisinsassen behandelt, sondern bekamen Freizeitangebote. Sie konnten malen, musizieren, ihr eigenes Gemüse anpflanzen. Bis dato ein Ding der Unmöglichkeit, denn wer im frühen 19. Jahrhundert psychisch erkrankte, dem wurde in der Regel nicht geholfen, sondern der wurde weggesperrt, von der Öffentlichkeit ferngehalten. Psychischen Erkrankungen haftete ein Makel an, dem man besser aus dem Wege ging.

Schrecken einer psychischen Erkrankung

Der junge Ludwig Meyer erlebt in der eigenen Familie den Schrecken einer psychischen Erkrankung. Seine Mutter wird zunehmend depressiv, der Arzt weiß sich keinen Rat. Der strenge Vater erklärt seinem wissbegierigen Sohnemann, seine Mutter habe nur eine Verstimmung. „Eine Gemütssache. Frauenunsinn.“ Doch dass seiner Mutter nicht nur Frauenunsinn widerfährt, ist Meyer spätestens klar, als sie versucht, sich in den Tod zu stürzen. Der Vater ist völlig überfordert, fürchtet um den guten Ruf der Kaufmannsfamilie. Die Kutsche, die die Mutter ins Krankenhaus bringt, soll tunlichst nicht gesehen werden. Und als sie aussteigen, sagt er seiner Frau: „Die Schultern zurück, strengerer Blick, Annette, stramm, sonst halten die dich noch für verrückt.“

Bloß nicht verrückt sein. Nur Frauenunsinn. Für Ludwig Meyer folgt an diesem Tag wohl das Erweckungserlebnis für die viel spätere Entscheidung, den Zwang zu verkaufen. Denn er muss mit ansehen, wie seine Mutter überwältigt und in eine Zwangsjacke gesteckt wird. „Die drei Graukittel zogen sie durch eine Tür. Mutters Fersen schleiften über den Boden, sie verlor ihre Schuhe. Sie kreischte. (…) Rums. Weg.“ Oft schreibt Kollender bloß kurze, einfach wirkende Hauptsätze. Doch er schafft damit immer wieder eine Eindringlichkeit, der man sich nicht entziehen kann. Das ist wahre sprachliche Raffinesse, die mit wenigen Worten das Herz erreicht und das Denken anschiebt.

Ludwig Meyer macht sich auf, ein Reformer der Behandlung geistig kranker Menschen zu werden. Im Studium nennen ihn manche einen „eleganten Spinner“, andere verspotten ihn als „Advocatus der Irren“. Und seine Professoren der Medizin glauben, es sei eine rhetorische Frage, die sie stellen, wenn sie ins Auditorium rufen: „Meine Herren, wirklich, wofür braucht ein Irrer einen Arzt?“ Ja, wofür braucht ein Irrer einen Arzt? Der hat schließlich kein gebrochenes Bein, das man behandeln könnte. Der Irre ist nicht ganz klar im Kopf, dem kommt man nicht bei, deshalb versteckt man ihn lieber im Keller hinter vergitterten Fenstern und überlässt ihn sich selbst. Ludwig Meyer besucht in England den Kollegen John Conolly, der ebenfalls historisch verbrieft ist. Conolly ist in England damals Vorreiter der „No Restraint“-Bewegung, und Kollender lässt ihn deutlich formulieren: „Wir nennen sie Irre. Wahnsinnige. Wir drängen sie weg. Warum, Meyer? Weil wir Angst haben. Wir haben Angst davor, etwas von uns selbst in diesen Menschen zu sehen. Wir haben Angst vor Erkenntnis.“

„Hauen Sie wieder ab mit diesem ganzen Dreckspack“

Und die furchtbare Erkenntnis ist: daran hat sich nach fast 200 Jahren kaum etwas geändert. Wie auch an der Reaktion der Öffentlichkeit nicht. Denn heute wie damals kocht die Volksseele, wenn in die Nachbarschaft ein psychiatrisches Krankenhaus ziehen soll: „Wir wollen Sie da nicht!“ „Hauen Sie wieder ab mit diesem ganzen Dreckspack.“ „Wir wollen keine Irrenanstalt bei uns. Wir wollen die da nicht haben.“ Das sind Sätze aus dem Roman. Aber sie könnten auch aus einer heutigen Bürgerversammlung stammen.

Kollender hat also nicht nur ein zu Herzen gehendes historisch exzellent recherchiertes Porträt über einen Psychiatrie-Revoluzzer geschrieben, sondern auch einen Roman, an dem wir uns selbst messen können: wie gehen wir denn heute mit psychisch Kranken um? Wie behandeln wir Menschen mit Behinderungen? Und braucht nicht jede Zeit Menschen wie Ludwig Meyer, die anderen voraus sind und uns daran erinnern, was wir alle sind? Ohne Ausnahme: Menschen. Meyer muss das sehr häufig sagen: Menschen! Das sind doch Menschen!

Ihm ist nichts Menschliches fremd, diesem Ludwig Meyer. Das ist schon ein dufter Typ, und allzu oft möchte man zu ihm in die Kutsche steigen und die Räder über das Pflaster Hamburgs rattern hören, während man mit dem Herrn Doktor Fallakten bespricht. Aber dann und wann möchte man ihn auch schütteln und zur Vernunft bringen, manchmal ist er gar ein arroganter Angeber – und in der Liebe ein hilfloses Wesen. Obgleich Ludwig Meyer in diesem Roman Bahnbrechendes vollbringt, macht Kollender ihn nicht zum Helden. Das ist er nicht, das macht aber auch einen weiteren Reiz dieses Buches aus: dass Ludwig Meyer seine eigenen Verschrobenheiten hat. Manche würden vielleicht sagen: Verrücktheiten.

Kollender, der mit seiner Familie in Hamburg lebt, ursprünglich aber aus Duisburg stammt, hat bereits 2015 mit der Wiederentdeckung eines historischen Helden brilliert: In dem Kriminalroman „Kolbe“ erweckte er eindrucksvoll den fast vergessenen Widerstandskämpfer Fritz Kolbe zum Leben. Das Buch, ebenfalls aus dem Pendragon-Verlag, liegt mittlerweile in der fünften Auflage vor und wird derzeit für den US-amerikanischen Markt übersetzt. „Kolbe“ war ein großer Erfolg – und auch Meyer könnte ein solcher werden. Warum? Einer von Meyers Kommilitonen sagt einen Satz, der treffender nicht sein könnte: „Eine gut erzählte Geschichte, Ludwig, das ist doch das Beste.“

Andreas Kollender: Von allen guten Geistern, Pendragon Verlag, Bielefeld, 2017, 438 Seiten, broschiert, 17 Euro, ISBN 978-3865325754, Leseprobe

Diese Rezension ist in gekürzter Fassung auch im Wochenendmagazin der Neuen Westfälischen (Samstag/Sonntag, 18./19. März 2016) erschienen.

Verlosung: Gewinnen Sie eines von drei Kollender-Buchpaketen!
Mit diesem Beitrag bricht der Bielefelder Pendragon-Verlag zu einer fünftägigen Blogtour auf: fünf Literaturblogs aus Deutschland beschäftigen sich in unterschiedlichster Art und Weise mit dem neuen Buch von Andreas Kollender. Tag für Tag folgen nun die weiteren Beiträge auf den Blogs „Leckere Kekse“, „Der Buch- und Medienblog“, „Die dunklen Felle“ sowie auf dem Blog „Wortgestalt“. Folgen Sie der Blogtour mit dem Hashtag #KollendersGeister in den sozialen Netzwerken und verpassen Sie keinen Beitrag!

Im Rahmen der Blogtour verlost der Pendragon Verlag drei Kollender-Buchpakete mit jeweils einem Exemplar von „Kolbe“ und „Von allen guten Geistern“. Um an der Verlosung teilzunehmen, müssen die TeilnehmerInnen ein Lösungswort bilden. Das Lösungswort findet sich in den fünf Blogbeiträgen zu der Tour. In jedem Beitrag findet sich ein fett gedruckter Buchstabe – das Lösungswort besteht also aus fünf Buchstaben. Zur Teilnahme an der Verlosung muss das Lösungswort an presse@pendragon.de gesendet werden. Einsendeschluss ist Freitag, der 17. März 2017 um 23:59 Uhr.

Die drei Gewinner werden aus allen Teilnehmern ausgelost. Nach der Auslosung werden die Gewinner per Mail benachrichtigt und um ihre Adressdaten gebeten. Die Adressdaten der Gewinner werden nur für den Versand benötigt und nicht an Dritte weitergegeben. Eine Barauszahlung des Gewinns ist nicht möglich. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mit der Teilnahme am Gewinnspiel erklären Sie sich mit diesen Bedingungen einverstanden.

Die Spezialität des Pendragon-Verlags aus Bielefeld sind Krimis. Unter den Freunden der Spannungsliteratur ist der Verlag auch deshalb bekannt geworden, weil er angekündigt hat, alle 20 Bände der Dave-Robicheaux-Reihe von US-Autor James Lee Burke zum Teil erstmals auf Deutsch herauszubringen. Außerdem veröffentlicht der Verlag seit 2009 die Werkausgabe von Max von der Grün. Sämtliche Bände der zehnteiligen Werkausgabe sind gebunden erschienen und enthalten weitere Erzählungen, Reportagen und Erinnerungen sowie jeweils ein Nachwort (zur Seitengang-Rezension von Band I der Werkausgabe).

13 Antworten auf “Ein Revoluzzer verkauft den Zwang”

  1. Hallo Christian,
    viele Dank für deine ausführliche und packende Rezension. Wenn ich das Buch noch nicht gelesen hätte: jetzt würde ich es kaufen.
    Viele Grüße
    Silvia

  2. Lieber Christian,
    danke für die sehr lesenswerte Rezension zu Andreas Kollenders Buch “ Von allen guten Geistern verlassen „! Da ich selbst vor über vierzig Jahren eine Zeit lang in der Psychiatrie gearbeitet und dort ganz schreckliche Erfahrungen gemacht habe, interessiert mich dieser Roman besonders. Ich fürchte auch, es hat sich seitdem nicht wirklich viel geändert. Furchtbar!
    Danke auch dafür, dass Du dazu beiträgst, diese Dinge wieder in Erinnerung zu bringen!
    Viele Grüße
    Vera

  3. Danke für die gute Rezension, das Cover fand ich bisher nicht so ansprechend, als Coverkäufer hätte ich das Buch sicher nicht in die Hand genommen, doch nun muss ich meine Meinung revidieren.

  4. Deine Besprechung ist wirklich fantastisch, ich finde mich und meine Leseerlebnisse darin wieder! War mir ein wirkliches Vergnügen, mit euch gemeinsam diese Woche zu bestreiten!

    Viele liebe Grüße,
    Philly

    1. Hallo Philly,
      das freut mich sehr, dass meine Rezension so sehr Deinem eigenen Leseeindruck entspricht. Dein Lesetagebuch habe ich übrigens auch mit Begeisterung gelesen. Ich finde ja, es muss nicht unsere letzte Blogtour gewesen sein.
      Liebe Grüße,
      Christian

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